Karlsruhe stoppt einrichtungsbezogene Impfpflicht nicht, sieht aber offene Fragen
Deutsches Ärzteblatt vom Freitag, 11.2.2022
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat einen Eilantrag abgelehnt, der gefordert hat, das Gesetz zur Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht vorläufig auszusetzen. Der Erste Senat in Karlsruhe lehnte das gestern ab (Az.: 1 BvR 2649/21).
Die abschließende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Zunächst kann damit aber die Impfpflicht für Personal in medizinischen Bereich und der Pflege am 15. März in Kraft treten.
Die Verabschiedung der Impfpflicht in Bundestag und Bundesrat Mitte Dezember des vergangenen Jahres hatte eine Klagewelle in Karlsruhe ausgelöst. Bis zum 3. Februar dieses Jahres waren 74 Verfassungsbeschwerden von rund 300 Klägern eingegangen, viele davon mit Eilanträgen. Geklagt haben überwiegend ungeimpfte Beschäftigte und auch Einrichtungsleiter, die weiter ungeimpftes Personal beschäftigen wollen.
Die Richter nahmen im Eilverfahren eine Folgenabwägung vor. Sie prüften, was die schlimmeren Konsequenzen hätte: Wenn sie erst einmal das Gesetz in Kraft treten lassen, obwohl die Klagen berechtigt wären – oder wenn sie die einrichtungsbezogene Impfpflicht vorübergehend aussetzen und sich diese später als verfassungsgemäß herausstellt.
Diese Abwägung ging zum Nachteil der Kläger aus. „Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber“, teilte das Gericht heute mit. Die Impfpflicht begegne „zum Zeitpunkt dieser Entscheidung keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken“.
Die Pandemie ist den Richtern zufolge nach wie vor durch eine besondere Infektionsdynamik mit hohen Fallzahlen geprägt, mit der eine große Infektionswahrscheinlichkeit und dadurch ein entsprechend hohes Gefährdungspotenzial für vulnerable Personen einhergeht.
Für diese ist auch im Hinblick auf die Omikronvariante des Virus weiterhin eine möglichst frühzeitige Unterbrechung von Übertragungsketten besonders wichtig, wie Sachverständige weitgehend übereinstimmend gesagt hätten.
Insoweit ist dem Ersten Senat nach auch zu berücksichtigen, dass sich gerade vulnerable Personen grundsätzlich nur eingeschränkt selbst gegen eine Infektion schützen können und sie zudem auf die Inanspruchnahme der Leistungen, die die der Gesundheit und Pflege dienenden Einrichtungen und Unternehmen erbringen, angewiesen sind.
Folgeabwägung
Bei der Folgenabwägung der jeweils zu erwartenden Nachteile muss aus Sicht des Gerichts „das Interesse der Beschwerdeführenden zurücktreten, bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde weiterhin ungeimpft in den betroffenen Einrichtungen und Unternehmen tätig sein zu können“.
Die Richter wiesen aber auch darauf hin, dass eine Impfung das körperliche Wohlbefinden „jedenfalls vorübergehend“ beeinträchtigen kann. Im Einzelfall könnten auch schwerwiegende Impfnebenwirkungen eintreten, die im extremen Ausnahmefall auch tödlich sein könnten. Eine erfolgte Impfung sei auch im Falle eines Erfolgs der Verfassungsbeschwerde irreversibel.
Allerdings verlange das Gesetz den Betroffenen nicht unausweichlich ab, sich impfen zu lassen, so das Gericht. Für jene, die eine Impfung vermeiden wollten, könne dies zwar vorübergehend mit einem Wechsel der bislang ausgeübten Tätigkeit oder des Arbeitsplatzes oder sogar mit der Aufgabe des Berufs verbunden sein.
„Dass die in der begrenzten Zeit bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde möglicherweise eintretenden beruflichen Nachteile irreversibel oder auch nur sehr erschwert revidierbar sind oder sonst sehr schwer wiegen, haben die Beschwerdeführenden jedoch nicht dargelegt; dies ist auch sonst – jedenfalls für den genannten Zeitraum – nicht ersichtlich“, erklärte der Erste Senat.
Die Richter merkten in Bezug auf den Gesetzgeber allerdings kritisch an, dass im Gesetz nichts Genaueres zum Impf- und Genesenennachweis steht. Es werde lediglich auf eine Verordnung mit weiteren Verweisen auf Internetseiten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) und des Robert-Koch-Instituts (RKI) verwiesen. Diese Vorgehensweise stellten die Richter infrage.
Die einrichtungsbezogene Impfpflicht soll alte und geschwächte Menschen vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 schützen, die ein besonders hohes Risiko haben, sehr schwer zu erkranken oder daran zu sterben.
Sie gilt für Beschäftigte in Pflegeheimen und Krankenhäusern, aber zum Beispiel auch in Arztpraxen und bei ambulanten Diensten, für Hebammen, Physiotherapeuten und Masseure. Sie alle müssen bis 15. März 2022 nachweisen, dass sie vollständig geimpft oder kürzlich genesen sind.
Neue Beschäftigte benötigen den Nachweis ab dem 16. März von vornherein. Für Menschen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, gilt eine Ausnahme. Fehlt der Nachweis, muss das Gesundheitsamt informiert werden, um den Fall zu untersuchen. Es kann Geldbußen anordnen und dem Betroffenen verbieten, die Einrichtung zu betreten oder seine Tätigkeit weiter auszuüben.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte die Entscheidung aus Karlsruhe. „Das Bundesverfassungsgericht setzt richtige Priorität. Der Geimpfte trägt ein minimales Risiko der Nebenwirkung. Damit schützt er Ältere und Kranke, die ihm anvertraut sind, vor Tod und schwerer Krankheit. Auch Omikron ist eine Gefahr für diese Menschen“, twitterte er heute.
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Britta Haßelmann, sieht in der Eilentscheidung „ein Zeichen für den Schutz älterer und vulnerabler Menschen in Kliniken und Pflegeeinrichtungen“. Sie begrüße ausdrücklich, dass das Gericht mit seiner Abwägung der betroffenen Grundrechte für diesen konkreten Fall die verfassungsmäßigen Möglichkeiten aufgezeigt habe und sehe der Entscheidung in der Hauptsache entgegen.
Die Einführung der einrichtungesbezogenen Impfpflicht hatte in den vergangenen Tagen zu heftigem Streit zwischen Bayern und dem Bund geführt, weil Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) angekündigt hatte, den Vollzug zunächst auszusetzen zu wollen. Er hatte offene Fragen bei der Umsetzung bemängelt.
Bayern sieht sich trotz des gescheiterten Eilantrags bestätigt. Das Gericht habe klar gesagt, dass bestimmte Fragen in dem Gesetz zu klären seien, sagte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) heute. „Deshalb bestätigt das im Prinzip genau die Linie der bayerischen Staatsregierung.“
Auch von anderer Seite hatte es immer wieder Bedenken gegeben, dass die Prüfung der einzelnen Fälle durch die Gesundheitsämter kaum zu leisten sei. Außerdem wird befürchtet, dass die Durchsetzung zu große Lücken beim Pflegepersonal reißt.

Der Erste Senat beim Bundesverfassungsgericht /picture alliance, Uli Deck